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13.02.2012




"Die Kugel hat sie verfehlt”


Muriel Mirak-Weissbach über ihre armenischen Eltern
Moderation: Dieter Kassel

Als kleine Kinder haben ihre Eltern den Genozid an den Armeniern in der Türkei überlebt, nun hat Muriel Mirak-Weissbach darüber ein Buch geschrieben. Im Interview spricht sie über die Identität der modernen Türkei und Chancen zur Versöhnung.

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Dieter Kassel: Muriel Mirak-Weissbach ist eine armenischstämmige Amerikanerin, geboren und aufgewachsen ist sie in Neuengland, Mitte der 60er-Jahre kam sie dann nach Europa, nach Italien, da hat sie 15 Jahre lang gelebt. Dann haben sie zahlreiche Reisen vor allem in den Nahen und Mittleren Osten geführt und inzwischen wohnt sie in Deutschland.

Ihre Eltern haben sich zwar in den USA kennengelernt, aber beide sind Armenier gewesen und kamen aus der Türkei. Dort haben sie als kleine Kinder den Völkermord an den Armeniern 1915, 1916 überlebt. Die wahre Geschichte ihrer Eltern und auch ihrer Großeltern, die hat Muriel Mirak-Weissbach erst sehr, sehr spät erfahren, und sie hat sie dann in ihrem Buch "Jenseits der Feuerwand" erzählt. Jetzt ist sie zu Gast hier bei uns im Deutschlandradio Kultur. Schönen guten Tag, Frau Mirak-Weissbach!

Muriel Mirak-Weissbach: Guten Tag!

Kassel: Wann haben Sie denn damals in den USA von Ihren Eltern, auch von Verwandten, überhaupt das erste Mal irgendetwas über den Genozid an den Armeniern in der Türkei gehört?

Mirak-Weissbach: Also, irgendetwas haben wir Kinder erfahren sonntags, bei den Sonntagsessen, wo wir bei Verwandten waren. Und alles wurde in Armenisch gesprochen, ich konnte das nicht verstehen, aber man kannte bestimmte Begriffe: Genozid, Massaker, die Türken und so weiter und so fort, die Heimat. Aber erst 1992 habe ich deutlich von meiner Mutter erfahren, was sie in der Kindheit erlebt hat. Und zwar, das war, als ich zu Hause war in den USA. Ich lebte schon in Deutschland, aber ich war mir meinem Mann zu Hause zu einem Besuch. Und wir hatten eine humanitäre Hilfsaktion gestartet für die Kinder im Irak, nach Wüstensturm. Wir waren zu Besuch bei den Eltern, haben Dias gezeigt von den Kindern, die wir teilweise in die USA oder nach Deutschland gebracht haben für Behandlungen. Und ich habe die Geschichte eines Mädchens erzählt im Irak, ein kleines Kind, das während des Krieges verletzt wurde und sprachlos wurde, also es konnte nicht mehr sprechen, kam nach Deutschland, lernte da Deutsch zu sprechen, und als sie zurück kam in den Irak, konnte es nicht mehr Arabisch sprechen. Also, ich habe diese Geschichte erzählt und meine Mutter hat die Bilder von dem kleinen Kind gesehen und plötzlich ist irgendwas passiert. Es war wie eine Explosion in ihrem Gedächtnis und sie hat angefangen, mir die Geschichte ihrer Kindheit zu erzählen, was sie nie vorher erwähnt hatte.

Kassel: Was ist das für eine Geschichte? Was hat Ihre Mutter da als noch ganz kleines Mädchen, glaube ich, damals ...

Mirak-Weissbach: Es ist nicht klar, wann sie geboren wurde. Jedenfalls, ich glaube, 1914 wurde sie geboren in einem kleinen Dorf, Zak, in der Nähe von Arabkir, im heutigen Anatolien, also Osttürkei. Und sie wurde mit ihrer Mutter und Großmutter, also, alle Frauen und Kinder waren zusammengebracht worden und in ein Feld geführt und dort wurden sie erschossen. Das war, nachdem die Männer umgebracht worden waren. Die Kinder und die Mütter und Großmütter waren alle da und die Mutter meiner Mutter hatte sie an der Brust gehalten und sie wollte, dass sie beide zusammen sterben. Aber die Kugel hat sie verfehlt. Also, sie ist am Leben geblieben. Und Tage später, wir wissen nicht, wann, kam ein türkischer Schäfer auf dieses Feld und hat das Kind gehört, das weinte, hat das Kind mitgenommen und auf die Treppen der Moschee gestellt, was üblich war mit Findelkindern. Und danach kam ein Gendarm dieser Stadt, Omar. Er hat das Kind gefunden, mitgenommen nach Hause. Er und seine Frau hatten keine Kinder und er hat seine Frau gebeten, sich um das Kind zu kümmern. Aber sie (…) sagte, nein, das ist ein Christenkind, ein (…), ich will keins und ich bin sowieso zu alt. Aber am nächsten Tag hat sie (…) meine Mutter als Baby mitgenommen und wieder zur Moschee getragen. Sie hat sie auf die Treppen der Moschee gelegt und war da mit Nachbarinnen und sie haben miteinander geredet.

Da kam das Kind zu ihr (…) und hat an ihrem Rock gezogen. Und da hat sie mit Tränen in den Augen gesagt: Allah hat mir dieses Kind geschickt und ich werde das Kind bei mir halten und ich werde das Kind lieben, so lange ich lebe. Und diese Frau hat sie wirklich geliebt, bis ihr Mann dann gestorben ist, der Omar, und eine Cousine meiner Mutter, die sie gefunden hat 1917, konnte sie dann mitnehmen. Und sie ist dann mit dieser Cousine nach Amerika gekommen, erst durch eine Karawane nach Aleppo und dann Frankreich und so weiter und so fort, und dort in Amerika hat sie meinen Vater kennengelernt.

Kassel:
Das Interessante ist nun, dass die Geschichte Ihres Vaters natürlich in den Einzelheiten eine ganz andere ist, aber es gibt eine Gemeinsamkeit: Auch Ihr Vater - man kann das in Ihrem Buch genau nachlesen - hat es Türken, hat es Nachbarn, hat es muslimischen türkischen Bürgern zu verdanken, dass er überlebt hat. Und diese Geschichten Ihrer beiden Eltern sind eigentlich gar nicht so ungewöhnlich, denn es gibt auch wirklich historische Unterlagen, die belegen, dass relativ häufig armenischen Kindern - selten auch Erwachsenen, wenn es die Gelegenheit gab - geholfen wurde von Türken, von muslimischen Türken. Ist diese Tatsache, dass eben nicht bei diesem Genozid die Türken, ein ganzes Volk, die Armenier umgebracht hat, sondern eine politische Clique, nenne ich es jetzt mal, ist das vielleicht - jetzt kommen wir ins Heute - auch eine Chance zur Versöhnung?

Mirak-Weissbach: Absolut, das ist meine feste Überzeugung. Und zwar, wie Sie gesagt haben, mein Vater wurde zweimal von türkischen Frauen gerettet und war der einzige Armenier, übriggeblieben, in seinem Dorf (…). Und die waren zwei von Zehntausenden, Hunderttausenden. Wir wissen nicht genau, wie viele Waisenkinder gerettet worden sind von Türken oder auch von Kurden und Arabern teilweise, aber die meisten waren Türken. Und das bedeutet, dass die Türkei kein türkischer Staat ist in dem Sinne, dass viele türkische Staatsbürger heutzutage anfangen, die eigene Familiengeschichte zu untersuchen, und entdecken sehr oft eine armenische Großmutter oder einen armenischen Großvater.

Und da geht es los: Diese dritte Generation der Enkelkinder fängt dann an zu fragen, Eltern und Großeltern, wenn die noch da sind, was war dann? Wie ist das geschehen? Wie kommt es, dass ich eine armenische Großmutter hatte? Was war dann 1915, was ist in Armenien passiert, wer sind die überhaupt für eine Kultur, für ein Volk? Und warum ist das passiert? Und wenn diese Türken der Enkelkindergeneration fragen, was war dann, 1915, ist diese Frage nicht nur an die Eltern und Großeltern gestellt, sondern auch implizit an die Regierung. Und ich glaube, je mehr diese Diskussion sich entwickelt, je mehr Armenier auch von der Diaspora in die Türkei fahren und die Dörfer und so weiter besuchen, wo die Eltern und so weiter herkamen, und mit einzelnen Türken darüber reden, die eigene Familiengeschichte erzählen, kommt es zu einem Punkt, wo die Regierung, der Staat, nicht mehr leugnen kann, dass es einen Völkermord gegeben hat.

Kassel: Welche Rolle spielt aber gleichzeitig die offizielle Diplomatie? Es gibt ja auch Annäherungen zwischen dem Staat Türkei und dem armenischen Staat, also den Regierungen in Ankara und in Eriwan, da hat es diese sogenannte Fußballdiplomatie ganz am Anfang gegeben. Das heißt einfach so, weil der türkische Präsident, der war der erste, der nach Eriwan gefahren ist, um sich ein Fußballspiel anzusehen zwischen den beiden Staaten, und dann gab es ein Rückspiel und einen Rückbesuch. Welche Rolle spielt das? Denn es hat ja inzwischen auch durchaus Abkommen zwischen Armenien und der Türkei gegeben. Aber diese Frage: Geben wir den Genozid zu oder nicht, die wird da ja bisher doch ausgeklammert.

Mirak-Weissbach: Ja. In diesem sogenannten Protokoll, was unterschrieben worden ist von beiden Seiten, heißt es, man soll eine Kommission von Historikern gründen, mit Historikern aus Armenien, aus der Türkei, auch internationale Experten, um zu forschen, was 1915 passiert ist. Also, das ist natürlich nicht notwendig, die historischen Fakten sind recherchiert worden, es ist dokumentiert worden durch Augenzeugenberichte sowie durch Unterlagen von dem Auswärtigen Amt Deutschlands in der Zeit. Das ist alles veröffentlicht worden. Und es ist klar, was passiert ist. Die wollen das nicht wirklich antasten. Ich glaube, das Problem liegt in dieser Identitätskrise. Und zwar 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, gab es mehrere Prozesse gegen die Führung der Jungtürken, ob sie ins Ausland schon geflüchtet waren oder ob sie noch in der Türkei waren. Die wurden wegen Kriegsverbrechen verurteilt, zu Tode verurteilt teilweise, einige wurden auch exekutiert, die anderen waren im Ausland, wurden von armenischen Tätern umgebracht.

Nach der Gründung der modernen Türkei 1923 aber hat Atatürk, der die ganze Angelegenheit als Schande bezeichnet hatte, diese Jungtürken rehabilitiert. Und die Frage der türkischen Identität, Türkentum sozusagen, ist ein Eckpfeiler gewesen der Gründung der Republik, wie Taner Akcam, ein führender Genozidforscher von der türkischen Seite, dokumentiert hat. Und das ist das Problem. Wenn die Gründung der Nation und die Definition einer nationalen Identität damit zusammenhängt, dass der Völkermord geleugnet wird, dann ist es nicht nur eine Frage von Dokumenten, Unterlagen, zu sehen, okay, ja, das ist passiert, wir geben zu. Nein, das bedeutet, man muss überlegen, was ist eine gesunde Identität für die Türkei? Und ich glaube, es liegt darin: Der multiethnische Charakter des Osmanischen Reichs soll wieder rehabilitiert werden in dem Sinne, dass die Türkei heute auch multiethnisch ist. Und wenn man das als Geschenk, als positive Eigenschaft betrachtet, nicht als Bedrohung, dann kann das ein Weg sein, mit dem das türkische Establishment dieses Problem endlich löst.

Kassel: Damit haben Sie ganz am Schluss auch noch etwas erklärt, das man vielleicht sonst nicht verstehen würde, nämlich, dass es in Ihrem Buch, in dem die Geschichte erzählt wird, über die wir auch gesprochen haben, eben nicht nur um Armenien geht. "Jenseits der Feuerwand" heißt dieses Buch und im Untertitel heißt es "Armenien, Irak, Palästina". Ich glaube, gerade aufgrund der letzten Sätze kann man das verstehen, warum Sie das zusammengewürfelt haben. Das Buch ist im Schiller-Verlag in Berlin erschienen und natürlich immer noch erhältlich, vor zwei Jahren ist es erschieden. Muriel Mirak-Weissbach war bei uns zu Gast, ich danke Ihnen sehr, dass Sie die Zeit für uns hatten, danke schön!

Mirak-Weissbach: Ich bedanke mich!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.